90 Jahre Evangelische Michaelsbruderschaft

„Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind.“

 

Von dem, was uns als Bruderschaft prägt

Als mir als siebzehnjährigem Jugendlichen die Bruderschaft im Januar 1964 zum ersten Mal begegnete, waren gerade etwas über 32 Jahre seit ihrer Stiftung zu Michaelis 1931 vergangen. Damals lebten noch etliche von den Stifterbrüdern, von denen ich einige persönlich kennenlernen durfte, manche von ihnen mehr und andere weniger, wie: Karl Bernhard Ritter, Gustav Hammerschmidt, Gerhard Langmaack, Oskar Planck, Theodor von Sicard, Walter Stöckl, Wilhelm Thomas. Als Ersten aber aus der Reihe der Stifterbrüder erlebte ich damals Wilhelm Stählin beim Epiphaniaskonvent am 19. Januar 1964 des vormaligen Konvents Westfalen in Münster, eine Zusammenkunft, die von den Brüdern auch die „Stählinfestspiele“ genannt wurden, da Stählin alljährlich im Januar als emeritierter Professor der Universität Münster dort Vorträge und Vorlesungen hielt. Zu diesem Konvent hatte mich Bruder Kurt Köster mitgenommen, der mich aus meiner Heimatgemeinde in Bochum kannte, weil er dort mit uns Jugendlichen in der Jungenschaft des CVJM Bibelstunden gestaltete und Jugendgottesdienste feierte. Nie werde ich vergessen, wie mich die erstmalig erlebte morgendliche Feier der Ev. Messe in der Kapelle des Diakonissenmutterhauses Münster am letzten Sonntag nach Epiphanias, dem Fest der Verklärung Christi, innerlich berührte und nach dem Frühstück am späten Vormittag der Gemeindegottesdienst in der Universitätskirche, in dem Wilhelm Stählin über die Vision aus der Offenbarung des Johannes im 1. Kapitel predigte mit dem Bild vom Menschensohn, aus dessen Mund ein zweischneidiges Schwert kommt und der die sieben Sterne in den Händen trägt. Bis heute ist mir Stählins Aussage aus seiner Predigt zu diesem Bild im Gedächtnis geblieben: „Die Visionen der Heiligen Schrift zeigen uns Bilder, die man nicht darstellen kann und jeder Versuch der großen Künstler sie darzustellen musste scheitern; aber sie weisen uns hin auf die für uns verborgene Wirklichkeit der Welt Gottes.“ – Durch Vermittlung der Brüder Kurt Köster und Johann Friedrich Moes wurde ich nach dieser ersten Begegnung mit der Bruderschaft in Münster im Sommer 1964 zur Feierwoche der Jungbruderschaft St. Michael eingeladen, in die ich dann auch aufgenommen wurde. Als dann Anfang Oktober 1964, 33 Jahre nach der Stiftung der Bruderschaft, das Michaelsfest im Altenberger Dom mit der Einführung von Gerhard Hage in das Amt des Ältesten gefeiert wurde, konnte ich am letzten Tag des Festes als Jungbruder mit dabei sein und erleben, wie die Generation der Stifterbrüder und der Anfangszeit der Bruderschaft vertreten durch Karl Bernhard Ritter und Wilhelm Stählin die Leitung der Bruderschaft in die Hände einer jüngeren Generation legten, die aufnahm, was zu Michaelis 1931 mit der Stiftung der Bruderschaft begonnen worden war, um jenes Werk fortzusetzen und sich zugleich von der Frage leiten zu lassen, was in der Gegenwart der Anspruch des Evangeliums an die Kirche und die Bruderschaft sei.

Schon das 1926 erschienene Berneuchener Buch hatte die Frage vom Anspruch des Evangeliums auf die Kirche (wörtlich: „auf die Kirchen der Reformation“) formuliert und diese Frage blieb auch für unsere Bruderschaft seit ihren Anfängen prägend. Da aber alle Versuche zur Erneuerung der Kirche in jener Anfangszeit, wie Karl Bernhard Ritter sich einmal ausdrückte, „in die Schrotmühle theologischer Kritik“ geriet, startete man bereits 1926 einen ersten Versuch sich in der Lebensgemeinschaft einer Bruderschaft zusammenzuschließen mit einer Lebensordnung von 12 Sätzen. Darin steht bereits der entscheidende Satz, wie der Dienst der Bruderschaft an der Kirche zu geschehen hat: „Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind.“ Diese erste Bruderschaft innerhalb der Berneuchener Bewegung war, wie es Karl Bernhard Ritter im Rückblick viele Jahre später ausdrückte, „ein erster Versuch auf einem völlig unbekannten Gelände vorwärts zu kommen“, da es seit der Reformation hier zu einem Abbruch gekommen war, und es neben der Ortsgemeinde keine andere Sozialgestalt geistlichen Lebens mehr geben durfte. Allerdings ist dieser erste Versuch einer Bruderschaft fehlgeschlagen. Er wandte sich nämlich an den ganzen Kreis der Berneuchener Konferenz und ihre Interessenten. Sie aber waren nicht bereit, sich auf einen Weg fester Verpflichtung und wirksamer Seelsorge einzulassen. So erwiesen sich jene 12 Sätze als ungeeignet das Leben einer Bruderschaft zu tragen.

Ein Wendepunkt war dann die Osterwoche des Jahres 1931 mit Meditationsübungen und kultischen Erfahrungen, die miteinander verwoben waren und sich gegenseitig ergänzten. So wurde schließlich – wie man es bei Ritter in dem Aufsatzband „Kirche und Wirklichkeit“ nachlesen kann – die Einsicht gewonnen, „dass wir auf dem von uns begonnen Wege nur dann vorwärts schreiten können, wenn wir dem Versuch nicht länger ausweichen, unter uns ernsthaft und verpflichtend die Kirche konkret Gestalt annehmen zu lassen.“ Es erging dann an eine kleine Zahl von Mitgliedern der Berneuchener Konferenz eine Einladung zu einer Zusammenkunft vom 29. September bis zum 1. Oktober 1931 nach Marburg, wo Ritter an der Universitätskirche als Pfarrer tätig war. Aus dieser Einladung ging hervor, was man in diesen Tagen beabsichtigte, nämlich: „damit wir uns dort in der Weise zusammenschließen, die uns notwendig erscheint.“ Mit dem weiteren Inhalt des Einladungsschreibens wurden die Empfänger gebeten, vorläufiges Stillschweigen über das Vorhaben zu wahren, denn es sollte nicht schon im Vorfeld das Vorhaben einer verpflichtenden Bruderschaft gefährdet werden. Zumindest von einem Bruder der Anfangsgeneration aber weiß ich, dass er wegen dieser Verpflichtung zur Arkandisziplin nicht nach Marburg reiste. Es war Bruder Rudolf Spieker, der ab 1938 das Ältestenamt in der Bruderschaft übernahm. Von Bruder Spieker habe ich es selber bei der Rede auf die Bruderschaft während des Michaelsfestes 1966 in Ratzeburg gehört, wie er bezeugte: „Ich hätte es nicht vermocht meiner Frau zu verschweigen, dass wir den Lebensbund einer Bruderschaft geschlossen haben.“ So kamen dann von Ende September bis Anfang Oktober 1931 aus dem angeschriebenen größeren Kreis zweiundzwanzig Männer zusammen, die bei aller Unzulänglichkeit und Unterschieden im Herkommen der evangelischen Konfessionen und politischen Richtungen das Wagnis eingingen, sich auf einen gemeinsamen Weg zur geistlichen Erneuerung der Kirche zu begeben. Drei Tage und drei Nächte währten die Beratungen bis – wie es bei Ritter heißt – das „uns alle überzeugende Bekenntnis zu dieser Aufgabe geschenkt wurde.“ Diese wurde in der Stiftungsurkunde der nun begründeten Evangelischen Michaelsbruderschaft am Altar der Kreuzkapelle der Universitätskirche zu Marburg bei der Feier der Stiftung, deren handschriftliche Ordnung ich in Kopie besitze, hinterlegt. Jeder Einzelne von diesen zweiundzwanzig Brüdern verpflichtete sich mit diesem Satz, so wie es auch heute bei jeder Aufnahme in den Konvent der Brüder vom aufzunehmenden Bruder gesprochen wir:
„Vor Gott gelobe ich euch meinen Brüdern: Ich füge mich gehorsam ein in die Ordnung der Bruderschaft zum Dienst an der Kirche, Ich will den Brüdern in Liebe und Achtung zugetan sein.“

Aus dem Kreis der Stifterbrüder wurde Karl Bernhard Ritter zum ersten Leiter der Evangelischen Michaelsbruderschaft bestellt. Es war eine Aufgabe, die er gemeinsam mit einem Rat – bestehend aus fünf weiteren Brüdern wahrnahm. Zusammen mit Wilhelm Stählin, der für den weiteren Kreis der Berneuchner verantwortlich war, prägten seine geistlichen Impulse den Weg der Bruderschaft. Mit dem Darmstädter Arzt und Stiftungsbruder Carl Happich war er auch für die seelsorgerlichen Fragen der Bruderschaft zuständig. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im deutschen Staat gerät Ritter immer wieder in Konflikt mit ihnen. Er wird in dieser Zeit verhaftet und bedroht. Zwischendurch muss er bei Carl Happich in Darmstadt untertauchen. Überfordert durch die doppelte Verpflichtung in Gemeinde und Bruderschaft und die Auseinandersetzungen mit dem nationalsozialistischen Staat wird er von seinem bruderschaftlichen Leitungsamt 1938 entpflichtet, das nun Rudolf Spieker übernimmt, der 1931 bei der Stiftung der Bruderschaft wegen des Stillschweigegebots nicht dabei sein konnte. Die Zahl der Brüder ist inzwischen von den 22 Brüdern 1931 bis 1938 auf 248 Brüder gewachsen.

In den weiteren Jahren und Jahrzehnten gibt es seitdem immer wieder ein Auf und Ab in unserer Bruderschaft. „Kirche zwischen Planen und Hoffen“ so formulierte die Bruderschaft in der Zeit des Ältesten Gerhard Hage in der zweiten Hälfte der sechziger und Anfang der siebziger Jahre einen Neuaufbruch. Viele Impulse zur geistlichen Erneuerung der Kirche sind immer wieder von der Bruderschaft ausgegangen mit den besonderen Schwerpunkten für den Gottesdienst und die Ökumene. In der Urkunde sind Aufträge benannt, die weiterhin darauf warten von uns wahrgenommen zu werden, da sie auch in der heutigen Zeit hochaktuell sind, wenn es dort z.B. heißt: „Die Brüder tun in Gebet, Wort und Tat alles, um den Frieden zwischen Ständen und Völkern zu fördern, Hass und Ungerechtigkeit in der Kraft der Liebe Christi zu überwinden.“ Und: „In einer Stunde, da die Kirche sich selbst an den Anspruch der Welt zu verlieren droht, kann die Kirche das Wort der Entscheidung, das sie der Welt schuldet, nur sprechen, wenn sie den priesterlichen Dienst des Gebets erfüllt.“

Die 22 Stifterbrüder haben sich dem Anspruch des Evangeliums an die Kirche gestellt und fühlten sich ihm verpflichtet. Heute sind wir es, die sich diesem Anspruch zu stellen haben, damit in der Kirche in all ihren Wirken allein Christus bezeugt wird.

Herbert Naglatzki

Die Zitate finden sich in dem Aufsatz
„Nach einem Menschenalter“ aus „Kirche und Wirklichkeit“,
Gesammelte Aufsätze von Karl Bernhard Ritter, S. 185 ff

Fotos: Tom Kattwinkel

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