Predigt an Trinitatis 2021

über Johannis 3,1-8

Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster der Juden. 2 Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von   gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. 3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? 5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. 8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.

Jesus-Romane, Jesus-Novellen, Jesus-Erzählungen gibt es aus allen Epochen so viele, dass sie sich nicht mehr überblicken lassen. Immer wieder fühlen sich Menschen dazu gedrängt, die Jesus-Geschichte nachzuerzählen. Da gibt es gelungene und weniger gelungene Werke, literarisch wertvolle und eher verkitschte, wirklich gute und eher, sagen wir: gut gemeinte darunter. Aber offenbar ist der Drang, diese Geschichte zu erzählen, und sie im oder durch das Erzählen nachzuvollziehen und zu verstehen, groß.

Vielleicht kann man das Johannes-Evangelium als den ersten Jesus-Roman der Weltgeschichte ansehen. Denn literarische Qualität hat das Evangelium in jedem Fall und manche Szenen – ich denke dabei etwa an die Frau am Jakobsbrunnen, die Heilung am Teich Bethesda, die Heilung des Blindgeborenen oder die Begegnung zwischen Jesus und Pilatus in der Passionsgeschichte – sind außerordentlich kunstvoll und tiefsinnig komponiert.

Unsere Szene, die Begegnung zwischen Jesus und Nikodemus, ist eines dieser literarisch gelungenen Stücke. Sie wissen ja: Bei Romanen und Erzählungen kommt es gar nicht so sehr darauf an, ob sich exakt so zugetragen hat, was erzählt wird. Entscheidend ist, ob die Geschichte in sich stimmig ist, nachvollziehbar, plausibel, ob sie beim Leser ein Echo auslöst oder sie sich in den eigenen Bildern und Erinnerungen spiegelt. Ob es den Nikodemus so gegeben hat – er wird ja noch zweimal bei Johannes genannt – oder ob er eine Romanfigur ist, darauf kommt es weniger an. Wichtiger ist, dass sie Wirkliches darstellt, dass sich die Realität in dieser Figur widerspiegelt, dass sie denkbar ist und sie es so wirklich hätte geben können.

Nikodemus ist ein führender, gebildeter, verständiger Vertreter des öffentlichen und kirchlichen Lebens. Er genießt Anerkennung und er hat Einfluss. Ein Mann von guten Umgangsformen und jemand, mit dem man gut reden kann und der einem auch gut zuhört. Und vor allem: Er ist neugierig. Er verschließt sich nicht allem, was nicht ins Schema passt, wie man das leicht bei anderen Vertretern seiner Zunft antreffen kann. Er will nicht immer und überall recht haben und seine tiefere oder (je nach dem) höhere Einsicht zum Besten geben, um sich damit Respekt und Anerkennung zu erwerben. Er will vor allem eines. Er will wissen und verstehen. Und er hat den Mut nachzufragen, wenn ihm etwas nicht von vorneherein klar ist.

Wir, die Leser dieser kleinen Szene, haben sehr viel Sympathie für Nikodemus – vor allem, und wie gesagt, selbstverständlich ist das nicht – weil er offen ist und sich auf Neues und Ungewohntes einlässt. Er hat Jesus und seine Jünger erlebt, er war Zeuge der, wie er es nennt, Zeichen, die er tut. Was steckt hinter dem, was er da miterlebt hat? Dem wird man nur auf die Spur kommen, wenn man mit ihm selbst, mit Jesus ins Gespräch kommt.

Er begegnet Jesus auf Augenhöhe. Er spricht ihn respektvoll als Rabbi an, als Lehrer, der von Gott gekommen ist und mit dem Gott ist. Er signalisiert damit: Ich erkenne dich als gleichrangig an, ich erweise dir den Respekt, den ich dir schulde und ich möchte mit die ein theologisches Fachgespräch führen. Thema soll sein, was sich hinter dem, was du tust, verbirgt.

Aber zu einem solchen wissenschaftlichen Diskurs kommt es nicht. Nicht wirklich. Noch bevor Nikodemus dazu kommt, den Gesprächsgegenstand zu nennen, die Problemstellung zu beschreiben – bisher hat er ja nur einige höflich, anerkennende und gesprächsöffnende Formulierungen gebraucht – geht Jesus dazwischen und nimmt das noch unausgesprochene Thema des Nikodemus vorweg, nämlich die Frage, wie man des Reiches Gottes ansichtig wird. Er nimmt Nikodemus jegliche Illusion, als könne er sich gesprächsweise, theologisierend gewissermaßen, dem Reich Gottes nähern. Es bleibt dir verschlossen, das Reich Gottes, Nikodemus.

Nehmen wir an, wir würden hier in der Gemeinde ein ein Bibelseminar zum Thema Reich Gottes machen. Was das Reich Gottes ist, woran man es erkennen kann, wie man mit ihm in Berührung kommt, wie man es erfahren kann, was es mit einen macht und so weiter. Wir würden eine ganze Menge über das Reich Gottes lernen und vieles Interessante entdecken – so, wie Nikodemus auch vieles und Interessantes über das Reich Gottes wusste. Aber wir würden uns damit dem Reich Gottes nicht einen Millimeter nähern. Nikodemus macht aus dem Reich Gottes ein Bildungsproblem, die Angelegenheit einer gelehrten Untersuchung, einer wissenschaftlichen Fragestellung. Er könnte möglicherweise eine dreibändige Theologie des Reiches Gottes schreiben. Aber das Reich Gottes bleibt ihm verschlossen. Und zwar aus einem eigentlich sehr einfachen Grund, und vielleicht ahnen Sie selbst schon, warum das nicht so geht, wie der Nikodemus sich das vorstellt. Haben Sie eine Idee?

Jesus sagt: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird. Nikodemus versteht Jesus nicht und denkt, er soll wieder in die Gebärmutter kriechen, was natürlich nicht geht. Aber was Jesus hier im Johannesevangelium sagt, lesen wir – nicht wörtlich, sondern sinngemäß – auch an anderen Stellen im Neuen Testament. Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen, lesen wir in Mt 18. Ist jemand in Christus, so ist eine Neuschöpfung, sagt Paulus in 2. Kor 5.

Und damit wird klar: Ein Kind zu werden, neu geboren zu werden, eine Neuschöpfung zu werden – das liegt nicht in unserem Vermögen. Wenn jemand sagt: „Ich fühle mich wie neu geboren“, dann hat er in aller Regel eine Erfahrung gemacht, mit der er nicht rechnen und die er selber nicht herbeiführen konnte. Sie ist ein unverdientes und unerwartetes Geschenk. Und genau das deutet Jesus an. Das Reich Gottes, das neue Geborenwerden ist etwas, was an mir und mit mir geschieht, und ich selbst habe keinen Einfluss darauf. Mit anderen Worten, das Reich Gottes ist etwas, was Gott selbst und alleine herbeiführt und wir haben darauf keinerlei Einfluss.

Jesus wird hier im weiteren Gesprächsverlauf noch etwas konkreter. „Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“ Aus Wasser und Geist. Zwei Hinweise auf etwas, was nicht mehr rückgängig zu machen ist. Das Wasser ist ein Hinweis auf die Taufe und damit auf das Wort, dass ich mir nicht selber sagen kann, dass aber Gott gesprochen hat und nicht mehr zurück nehmen wird. Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, du bist mein. Und der Geist? Der Geist ist ein Hinweis auf das, was da geschieht, was da in Bewegung ist und was sich nicht mehr stoppen lässt. Wir reden vom Heiligen Geist, wenn wir jene Dynamik meinen, die sich nicht mehr anhalten lässt.

Lassen sie mich das an einem ganz aktuellen Beispiel deutlich machen. Wir haben den Eindruck, dass die katholische Kirche sich im Status der Auslösung befindet, besonders hier im Erzbistum Köln. Die Leute treten in Scharen aus, sie zeigen rote Karten, die Differenzen sind unüberbrückbar, die Verletzungen sind riesig, und die Sprachlosigkeit auch. Aber wenn wir genau hinschauen, dann stellen wir fest, dass die katholische Kirche so lebendig ist wie lange nicht mehr. Ich denke an Maria 2.0, an den synodalen Weg, an die Kirche von unten, auch an einige Bischöfe, etwa die in Mainz, Limburg oder Hildesheim, und da zeigt sich unglaublich viel Leben. Die katholischen Schwestern und Brüder sind unter diesen Bedingungen vielleicht nicht mehr bereit, Kirchensteuer zu zahlen, aber sie brennen für ihre Kirche. Da herrscht gerade ein heilsamen und kreatives Chaos, und wir Evangelischen werden die Katholiken noch beneiden, wenn wir sehen, was alles aus einem solchen schöpferischen Wirrwarr (oder Tohuwabohu, wie es in der Schöpfungsgeschichte heißt) noch werden kann.

Auf unserer Kirche liegen zugegebenermaßen noch etwas Bleischwere und Mehltau, trotz all der vielen bunten Bemühungen, sie in der Öffentlichkeit zum Thema zu machen und ins Gespräch zu bringen. Aber das wird auch bei uns irgendwann, und ich vermute mal, in gar nicht so ferner Zeit, in ein kreatives Chaos münden und wir dürfen gespannt sein, was daraus dann Neues erwächst. Und es wird etwas Neues daraus erwachsen.

Aber wir machen das nicht! Nicht wir sind es, die das kreatives Chaos und alles, was daraus folgen wird, hervorrufen. Das alles ist Werk des Heiligen Geistes, und der ist mächtig am Werk. Tun wir doch nicht so, als könnten wir unserer müde gewordenen Kirche irgendeinen Vitaminschub verpassen! Nein, die Ermüdungserscheinungen der Kirche gehen erst mal weiter, aber darunter regt sich was. Aber das regt sich von selbst, darauf haben wir keinen Einfluss. Wir können nur zugucken und Staunen, wozu der Geist Gottes in der Lage ist. Unsere Aufgabe ist, dass wir uns darauf einstellen, darauf achten und uns dafür bereithalten. Das kann, wie gesagt, sehr viel schneller gehen als wir es uns erträumt haben.

Der Jesus-Roman des Johannes erzählt keine Geschichte, die er sich ausdenken oder inszenieren konnte. Und eine, die noch gar nicht zu Ende ist. Eine, die sich noch heute erleben und bezeugen lässt. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So geschieht es immer wieder und auch heute wieder. Und wir achten gespannt darauf, wohin das führt.

Pfr. Stephan Sticherling

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