Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus.
Amen
Schwestern und Brüder,
Bei meinem ersten Besuch im Heiligen Land 1991 hat unser Guide Chaim Markan an allen unseren Gottesdiensten und Andachten teilgenommen. Er fand nichts dabei, mit uns zu beten. Beim Besuch an der Klagemauer baten wir ihn, nun mit uns zu beten. Er legte die Tiffilin und den Tallit an. Dann forderte er mich auf, auch etwas zu beten. Da habe ich die folgenden Worte gesagt und ihm standen die Tränen in den Augen. Da betete einer aus dem Volk der Mörder seiner Familie mit den Worten seiner Väter: Schma Israel, adonai eluhenu, adonai echat. W’ahabta et adonai eluhecha bechol lebabecha bechol nafchicha ubechol meodecha.
Das heißt auf Deutsch: Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst lieben den Herrn deinen Gott von ganzem Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit aller deiner Kraft.
Und dann geht dieser Text im 5. Mosebuch weiter: Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du auf dem Herzen tragen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt oder auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst; und du sollst sie zum Zeichen auf deine Hand binden, und sie sollen dir zum Erinnerungszeichen über den Augen sein; und du sollst sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore schreiben. Beschwörende Worte Gottes sind es, die sich gläubige Juden seit Jahrhunderten hinter die Ohren schreiben – nein, nicht hinter die Ohren schreiben, sondern in jedem Türrahmen befestigen. Ihre Füße durchschreiten unzählige Male die Türen, ihre Augen sehen unzählige Male die kleine Kapsel Mesusa, und das innere Ohr hört unzählige Male die beschwörenden Worte: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein“.
Sie passen nicht alle hinein in die kleine Kapsel: die vielen Gebote und Verordnungen, die das tägliche Leben regeln sollen und den Glauben an den einen Gott mit der Liebe zu den Nächsten untrennbar verquicken wollen. Sie passen nicht alle hinein, aber das „Höre, Israel!“, das Schma Jisrael, setzt sich im Unterbewusstsein fest, tagaus, tagein.
Aber das ist ein totaler Anspruch des Wortes Gottes, nicht vergleichbar mit der Erziehungsmaxime „Wer nicht hören will, muss fühlen“, nicht vergleichbar mit den Erzählungseinleitungen am Stammtisch „Hör mal zu, ich will dir mal was sagen …!“
„Höre, Israel!“ – ein unvergleichlicher Ruf dem wohl nur der tiefsinnige Satz Jesu ebenbürtig ist: „Wer Ohren hat zu hören, der höre.“, und: „Selig sind eure Ohren, dass sie hören!“
Hören, so sagt man, ist die allererste Sinnesfähigkeit des Menschen. Schon im Mutterleib kann das heranwachsende Kind akustische Schwingungen vernehmen. Der Herzschlag der Mutter ist vielleicht das allererste Signal, das gehört wird. Dann auch die Stimme der Mutter, wenn sie singt, wenn sie mit dem Baby spricht. Dann auch die Stimmen „von draußen“, wenn Mutter und Vater miteinander reden und die Geräusche der Umwelt „draußen“. Durch Hören beginnt das werdende Leben zu kommunizieren.
Später kommt die Erfahrung von Bewegung, ja von Berührung dazu – lange, bevor das Kind das Licht der Welt mit seinen Augen erblickt. Hören, so sagt man, ist vielleicht auch die letztmögliche Sinneserfahrung eines Menschen, wenn er stirbt.
Selbst solche Sterbenden, denen jedwede verbliebene Hörfähigkeit von Ärzten, Pflegenden und Angehörigen abgesprochen wird, zeigen manchmal völlig unerwartete Reaktionen: plötzliches tiefes Ein- und Ausatmen, plötzliche Unruhe, plötzlich weit geöffnete Augen, die vielleicht sogar das Gegenüber fixieren – eine Stimme von außen hat die tiefe Nacht des Sterbeprozesses durchdrungen und wurde wahrgenommen.
Vorsicht also mit unüberlegtem Gerede an allen Kranken- und Sterbebetten ist angesagt. Auf der anderen Seite soll man nicht müde werden, am Bett ernsthaft und hilfreich zu sprechen, zu beten und zu trösten.
Hören können ist ein Geschenk. Hören ist die Gabe, das Leben zu lernen, wahrzunehmen und zu kommunizieren. Beobachten wir die erstaunliche Entwicklung, wie das heranwachsende Kind die Sprache der Mutter erlernt: Lange bevor es sprechen kann, hört es und versteht allmählich, was gesagt wird. Da heraus lernt es zu sprechen, ja lernt es die Fülle der Erfahrungen zu verarbeiten und zu leben.
Hören können ist ein Urgeschenk für das Geschöpf. Hören können ist eine Gabe Gottes. Das jüdische Kind hört von früh auf die markanten Sätze des Schma Jisrael, in dem es ja auch heißt: „Diese Worte sollst du dir zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden …“
Auch in der christlichen Kirche werden seit eh und je die Geschichten und Gebete, die von den Erfahrungen mit Gott erzählen, weitergereicht. Kinder hören sie schon im Kindergarten, in der Schule und im Kindergottesdienst. Und das Gehörte, das immer wieder Gehörte prägt sich tief ein. Über Jahrhunderte hat das Geschenk des Hören-könnens den christlichen Glauben überliefert, ja, ihn in die Herzen gepflanzt, unterstützt von Bildern und Musik. Und das Gehörte meldet sich zu Wort, wenn es gebraucht wird:
In Notzeiten, in Freudenstunden, in der Erziehung, beim Trösten. Das Hören ist für den Glauben entscheidend.
Paulus sagt: „So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Gottes.“ (Römer 10,17). Der Glaube kommt durch das Hören. Höre, Israel! Wer Ohren hat, der höre!
Wenn Hören ein Geschenk ist, bedarf es eigentlich keiner Aufforderung mehr. Ein Geschenk macht Freude. Es zeigt seine Kraft von selbst und aus sich heraus. Und doch haben die Juden die Aufforderung „Höre!“ in ihren Türlaibungen angebracht, als wüssten sie um die Gefährdung des wunderbaren Geschenkes, hören zu können.
Und Jesus hat – wohl wissend um dieses Problem – tiefsinnig diesen Satz geprägt: Wer Ohren hat, der höre! Bis in die Offenbarung des Johannes hinein klingt dieser überhaupt nicht oberflächliche Satz nach. Die Gefährdung des Hörens und damit des christlichen Glaubens heute liegt auf der Hand.
Heute hat das Sehen Vorrang. Die Flut von Bildern, die überall unsere Wahrnehmung überschwemmt, lässt sich kaum eindämmen. Sie besetzt das Gehirn, verbraucht die Kapazität der Aufnahmefähigkeit und nimmt dem Hören viele Chancen. Und wo dem Hören noch Raum bleibt, da wird es vielfach zugedröhnt.
Die Technik hat wie beim Sehen auch hier die Macht übernommen. Sprechen und Hören, Zuhören und Zusprechen sind in den Hintergrund getreten.
Hier muss heute jeder Entscheidungen fällen und auch sich verweigern lernen. Will ich den Tiefen des geschenkten Lebens näher kommen? Will ich hören, horchen, lauschen?
Vielleicht sind es ja die Verliebten, die in der Tiefe hören lernen, wenn sie sich ganz nah erfahren. Wie es im Hohen Lied heißt: Aber eine ist meine Taube – echat – hier ist es wieder dies Wort: der Herr ist einzig, ist einzigartig.
Vielleicht sind es aber auch die, die die Einsamkeit aufsuchen, im Wald oder am Meeresstrand, die neu hören lernen. Vielleicht sind es Kinder und Eltern, die sich die zehn Minuten am Tage nehmen, wo weder Telefon noch Fernsehen stören, wenn sie eine abendliche Erzählung zur Mitte machen und das Hören seine Tiefe erreicht. Dann stellt sich Glück ein, Glück und Freude, die das Geschenk des Hörens zur Ursache haben.
Nein, Schwestern und Brüder, man braucht für dieses Hören keinen Verstärker, im Gegenteil: die leisen Töne kommen plötzlich an, sie brauchen Zeit, und Ruhe, und ein Wollen. Es ist so wie jetzt: wir sitzen hier im Gottesdienstraum, alles Laute ist draußen geblieben, und wir hören. Auch ich höre, wenn ich predige. Ich höre in mich hinein. Vorher habe ich am Schreibtisch gesessen und gehört. Mit viel Zeit. Mit viel Ruhe. Und jetzt hören wir gemeinsam. Wer Ohren hat zu hören, der höre.
Höre Israel! So beginnt es bei den Juden: In der Familie sitzt der Vater am Tisch, es ist Sabbat. Und er entzündet eine Kerze. Und dann fängt er an zu erzählen: „Vor langer Zeit waren unsere Väter und Mütter geknechtet. Ihr müsst euch das so vorstellen, Kinder: Da war die Hitze in Ägypten, und unsere Leute mussten für den Pharao Steine formen und schleppen. Sie wurden gepeitscht und litten Hunger, starben vor Erschöpfung … Und Gott hat sie befreit und in ein Land geführt, wo ihnen die Fülle des Lebens entgegenlachte: große und schöne Städte, die bereits existierten; Brunnen, die bereits gegraben waren; Weinberge und Ölbäume, die schon gepflanzt waren …“ und so erzählt der Vater immer weiter – von Gott, der sie befreit hat und noch immer befreit.
Wer Ohren hat, zu hören, der höre. So könnte es auch in unseren Häusern wieder beginnen.
Am Kinderbett abends sitzen Mutter oder Vater, Großmutter oder Großvater, es wird still, und statt dem Vorlesen des Kinderbuches und vor dem Abendgebet beginnt das Erzählen biblischer Geschichten.
Wie es Liebesgedichte oder Sätze gibt, die uns mitten ins Herz treffen, so gibt es Texte oder Verse im Buch der Bücher, die das ebenso tun wie das Kästchen mit den Worten: Höre Israel. Denn die ganze Bibel ist das Buch der großen Liebesgeschichte zwischen Gotte und den Menschen. Viele kennen ihren Konfirmationsspruch auswendig oder ihren Taufspruch. Sätze, die uns nahe sind, die wir im Herzen tragen. Ein solcher Satz aus den Psalmen ist der Taufspruch für Alexander aus dem Psalm 91: Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf all deinen Wegen. Ein anderes wichtiges Wort spricht Jesus kurz vor seiner Verhaftung aus: „Ich lebe und ihr sollt auch leben“. Diesen Satz gibt uns der gekreuzigte Auferstandene mit auf den Weg, um unsere Hoffnung auf Auferstehung wach zu halten. Oder ein anderes Psalmwort: Ich sitze oder stehe, liege oder gehe, stets hältst du deine Hand über mir.
Oder ein anderer Vers, der dasselbe meint: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Sätze und Verse, die uns aus dem Alltag herausholen wollen, die erkennen lassen, dass neben unserer manchmal schwierigen, manchmal trostlosen Wirklichkeit aber auch neben dem Feiern der Liebe und dem Kater am Morgen und und und …eine andere Wirklichkeit – im Wortsinne: Wirk-lichkeit der Liebe Gottes zu uns Menschen existiert.
Lassen Sie, lasst Ihr diese Wirklichkeit in Euer Leben hineinsprechen: „Ich habe dich je und je geliebt, spricht der Herr, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Liebe.
Amen
Pfarrer Bernd Dechant