Die Pietà – Eine Annäherung
Vieles von dem, was über Maria in der Schrift zu lesen ist, hat Ausdruck und Nachklang in der christlichen Kunst gefunden: die Verkündigungsszene, die Heimsuchung, die Geburt Jesu, Maria und Johannes unter dem Kreuz. Anderes ist eher der Predigt als der bildlichen Darstellung vorbehalten geblieben: die Suche nach dem Zwölfjährigen im Tempel, die Hochzeit zu Kana. In manchen Geschichten kommt Maria zwar vor, aber das Augenmerk liegt auf anderen Personen: beim Besuch der Weisen, bei der Flucht nach und der Rückkehr aus Ägypten, bei der Darstellung Jesu im Tempel. Darüber hinaus weiß die Legende manches aus dem Marienleben zu berichten, was biblisch nicht belegt ist, aber in der Frömmigkeitsgeschichte seinen Niederschlag gefunden hat: Joachim und Anna an der Goldenen Pforte, Marias Geburt und Tempelgang und vor allem ihr Tod, dessen Umstände in der ars moriendi aufgegriffen und zu ritualisierten Formen der Sterbebegleitung transformiert wurden.
Die kunst- und frömmigkeitsgeschichtlich bedeutsamste dieser „zusätzlichen“ Szenen ist die vorletzte Station des Kreuzweges „Jesus wird vom Kreuz abgenommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt.“ Maria als „mater dolorosa“, als Schmerzensmutter, mit ihrem toten Sohn im Arm – das ist nicht allzu weit weg vom biblischen Text, wo ihre Anwesenheit unter dem Kreuz bezeugt ist (Joh 19,25) und es nach dem Tod Jesu heißt: „Danach bat Josef von Arimathäa, der ein Jünger Jesu war, doch heimlich, aus Furcht vor den Juden, den Pilatus, dass er den Leichnam Jesu abnehmen dürfe. Und Pilatus erlaubte es. Da kam er und nahm den Leichnam Jesu ab.“ (Joh 19,38) Wer sich diese Szene vorstellt, in der Meditation sich in sie hineinversetzt, dem mögen Bilder wie dieses vor die Seele treten.
Die Stationen des Kreuzweges sind uns Evangelischen eher wenig geläufig. Aber um die Wahrnehmung dieser vorletzten Szene kommt niemand herum, der sich – und sei es noch so beiläufig – mit christlicher Kunst beschäftigt. Die Pietà, benannt nach der lateinischen Marienbezeichnung „domina nostra de pietate“ – „unsere Herrin vom Mitleid“, ist seit dem 14. Jahrhundert Gegenstand von Andacht und Meditation. Nach den Triumphkreuzen der Romanik und den thronenden Madonnen, die selbst zum Thron des Jesuskindes werden, ändert sich in der Gotik die Ikonographie. Mit der devotio moderna verbreitet sich eine Frömmigkeitsrichtung, in deren Mittelpunkt die Hinwendung zum Leiden und Sterben Jesu am Kreuz steht. Marias Trauer um ihren toten Sohn gab dem einen emotional bewegenden Ausdruck. Dieses „Vesperbild“ – so genannt wegen der Vorstellung, der Leichnam Jesu sei ungefähr zur Zeit des Abendgebetes, der Vesper abgenommen worden – ist in der spätmittelalterlichen Kunst eines der am häufigsten dargestellten Motive und fehlt bis heute in fast keiner katholischen Kirche.
In der Kapelle des St. Johannes-Hospitals in Dortmund steht die Pietà neben dem Eingang in einer Nische, die man nur sieht, wenn man sich nach dem Betreten des Raumes wieder umwendet. Ein zurückgezogener Ort in einem öffentlichen: ein wenig Platz, um zu stehen, einige Sitzplätze mit Kniebänken, der Figur gegenüber. In der Metallleiste brennen Kerzen, ständig. In den Stunden, die ich während der Operation meines Mannes und vor und nach meinen Besuchen bei ihm hier gesessen habe, sind viele Menschen ebenso da gewesen: Angehörige, Kranke, Pflegepersonal, Ärztinnen und Ärzte … Irgendwann fragte ich mich: Warum kommen sie her, was sehen und erfahren sie hier?
Im Vordergrund der Pietà: der tote Heiland. Sein zerschundener Körper zeigt, was Menschen einander antun können und was Menschen erdulden müssen: „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und nahm auf sich unsere Schmerzen …“ (Jes 53,4) Ganz real zeigt sich hier, was das nizänische Glaubensbekenntnis so formuliert: „und ist Mensch geworden“: Er hat gelitten und ist gestorben, so wie viele Menschen leiden müssen und wir alle sterben werden. Davon zeugt der tote Jesus der Pietà. Und auch wenn wir seine Auferstehung von den Toten glauben und verkündigen – es ist eine Auferstehung mit den Wundmalen an Händen und Füßen. Das Leid ist nicht vergessen, sondern verwandelt. Vor einem solchen Bild zu stehen, sich ihm auszusetzen, kann verstören und trösten: „Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meiner Not, und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot.“ (EG 85,10) Karfreitag ist memoria passionis (Johann Baptist Metz), Erinnerung an vergangenes und Vergegenwärtigung von heutigem Leid, menschlichem Leid. Das kann sehen, wer die Pietà betrachtet und den Menschen Jesus sieht.
Im Hintergrund der Pietà, teilweise verdeckt durch den Toten: Maria, die Mutter. Die Frau, die ihn empfangen, getragen und geboren hat, die sein Leiden und seinen Tod miterleben musste, ohnmächtig daneben stehend. Die Pietà erscheint wie der Gegenpol zum Weihnachtsbild. Hat Maria hier ihr Kind auf dem Arm, liegt dort der Leichnam ihres Sohnes auf ihrem Schoß. Das eine eine Szene, die Liebe und Geborgenheit trotz Armut und in Gefahr vermittelt, das andere eine voller Schmerz und Leid, ohne jeden Trost. Die Ordnung des Lebens ist auf den Kopf gestellt, wenn Kinder vor den Eltern sterben, ja, ihnen durch einen gewaltsamen Tod entrissen werden. In der Bibel gibt es viele Geschichten von toten Kindern, deren Mütter um sie getrauert haben: Eva um Abel, Batseba um ihr namenloses Kind, die Mutter des Jünglings von Naïn, die Frau des Jairus um ihre Tochter. Und Maria. Für sie alle ist die Welt aus den Fugen geraten, ihr Leben zerbrochen. So wie das Leben Vieler aus den Fugen gerät und zu zerbrechen droht, die sich um einen anderen Menschen sorgen, mit ihm mitleiden, Angst um ihn haben und doch nichts tun können. Das kann sehen, wer die Pietà betrachtet und Maria sieht.
Die Pietà – der tote Jesus und seine Mutter. Ihre Haltung, ihr letztes Miteinander macht das Kreuz noch einmal sichtbar, das sein Leben beendet hat und ihres zu zerstören droht. Wie zur Kreuzform ergänzen sie einander mit ihren Körpern, stellen mir Leid und Mitleiden vor Augen und vor die Seele, werden zum Spiegel menschlicher Erfahrung und können so – ja, was? Trösten? Vielleicht noch zu hoch gegriffen. Ein Bild sein, auf das ich schaue und in dem ich auch mich erkenne? Möglicherweise. Einen Ort zeigen, wo ich sein kann – ohne Erklärung, ohne Tun, ohne Worte, und doch verstanden werde … Die Kerzen vor der Pietà in der Krankenhauskapelle bezeugen: Etwas davon ist hier geschehen, es geschieht und es ist gut.
Sabine Zorn