Andacht von Dr. Roger Mielke

3. Sonntag nach Trinitatis, 28. Juni 2020

Wochenspruch: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Lukas 19,10

Evangelium: Lukas 15,1-3.11-32 „Vom verlorenen Sohn“.

V.1.2: Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.

 

„Immer nach Hause“

Mit Blaulicht und Sirene, vorbei an den vor der Ampel wartenden Autos, verschafft sich der Rettungswagen Platz. Auf der Seite des Wagens ein gelbes Kreuz mit rotem Rand und die Buchstaben ASB. Das Fahrzeug gehört dem „Arbeitersamariterbund“, einem der ältesten deutschen Wohlfahrtsverbände, traditionell der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie nahestehend. Interessant: Auch in diesem historisch den Kirchen eher indifferent gegenüberstehenden Milieu beruft man sich auf den „Samariter“ und damit auf eine der großen biblischen Erzählungen von Mitmenschlichkeit und Zuwendung.

Genauso wie der „Samariter“ ist auch eine andere vom Evangelisten Lukas erzählte Geschichte, diejenige vom „verlorenen Sohn“, sprichwörtlich geworden. Ein Mensch gerät auf Abwege, in tiefer Not „geht er in sich“, wendet sich zurück zur Heimat, wo ihn der Vater mit offenen Armen erwartet. Es sind diese Erzählungen und die mit ihnen verbundenen menschlichen Erfahrungen, Bilder und Gefühle, die unsere Kultur – bis heute – zutiefst prägen, viel mehr als theologische Subtilitäten oder Lehrsätze. Die Geschichten und Bilder sind eingesenkt in die Tiefenschichten unseres kulturellen Gedächtnisses, sie sind „kanonische“ Geschichten. Wie sind sie dazu geworden? Sie sind kanonisch geworden, weil sich in ihnen Erfahrungen verdichten, die viele einzelne Menschen berührt haben. Ihre prägende Kraft liegt darin, dass in ihnen das Evangelium auf besondere Weise anschaulich und wirksam wird – und zwar so, dass urmenschliche Bedürfnisse und Sehnsüchte angesprochen werden: Die Suche nach Zugehörigkeit und Heimat etwa, nach Zuwendung und Geborgenheit.

Das Evangelium vom „verlorenen Sohn“ rechnet vollkommen illusionslos damit, dass man sich auf dem Lebensweg rettungslos verlaufen, dass man alles Anvertraute verspielen kann. Wenn das so ist, dann lautet die Frage: Gibt es einen Neuanfang nach abgründigem Scheitern und wie ist er möglich? Das Geheimnis der großen Erzählungen des Evangeliums liegt also darin, dass in ihnen das Leben so zur Sprache kommt, wie es jeder Mensch kennt – dass aber genau dieses Leben in das Licht der überraschenden Initiative Gottes getaucht wird. Auch das gelebte Leben, das mit sich fertig zu sein scheint, bekommt neue Möglichkeiten geschenkt.

Nun könnte man natürlich fragen: Ist das nicht ziemlich nahe an der Ideologie unserer Tage, die besagt, dass jeder Mensch sich beständig neu erfinden kann, seine Identität neu definieren kann – aber eben auch muss. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg spricht vom „erschöpften Selbst“, das sich daran abarbeitet, immer wieder die eigene Individualität und Autonomie selbst herstellen zu müssen.

Anders die Geschichten der Evangelien: In ihnen geht es um die von Gott her eröffneten Möglichkeiten, um die Türen, die wir nicht selbst öffnen können, sondern die für uns geöffnet werden. Zuwendung, Vergebung, Neuanfang werden geschenkt, nicht erarbeitet. Freilich gehört dazu, die Bereitschaft, sich selbst ins Gesicht zu schauen, der Konfrontation mit dem eigenen Scheitern und den eigenen Schatten nicht auszuweichen – und gerade in dieser Perspektive die Sehnsucht nach einem trotz allem guten und gelingenden Leben wahrzunehmen. „Da ging er in sich…“ heißt es vom verlorenen Sohn (LK 15,17). Das kann ein weiter Weg werden. Wohin kommt, wer ihn gegangen ist? Eben: zum Vater. In der berühmten Sentenz von Novalis (aus dem Roman „Heinrich von Ofterdingen“) hört sich das so an: „Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.“ Genau das ist Evangelium: die „gute Nachricht“ von der Rettung des verlorenen Menschen in Zeit und Ewigkeit durch den liebenden Vater, der im Weg Jesu unausdenkbar nahe gekommen ist, im Leben und Sterben des Sohnes und in seiner Auferweckung zu einem neuen und unzerstörbaren Leben, an dem wir teilhaben sollen.

 

„Jesus nimmt die Sünder an; Saget doch dies Trostwort allen,

welche von der rechten Bahn auf verkehrten Weg verfallen!

Hier ist, was sie retten kann: Jesus nimmt die Sünder an.

Jesus nimmt die Sünder an; mich hat er auch angenommen

und den Himmel aufgetan, dass ich selig zu ihm kommen

und auf den Trost sterben kann: Jesus nimmt die Sünder an.“

 

EG 353,1+8 Erdmann Neumeister

Andacht von Dr. Roger Mielke

Download Druckversion PDF

Cookie Consent mit Real Cookie Banner