„Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ | Joh 3,16
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Nun begehen wir den zweiten Karfreitag und feiern das zweite Osterfest nacheinander unter den Bedingungen scharfer Einschränkungen: Gottesdienste werden digital gefeiert oder in kleinen Gruppen, mit großem Abstand und mit Masken. Wir verkündigen Jesus Christus, den Gekreuzigten, Auferstandenen und Gegenwärtigen, den, der „derselbe ist gestern heute und in „Ewigkeit“. Wir verkündigen, den, der sich gleichbleibt, der treu ist. Aber wir verkündigen ihn unter radikal anderen Bedingungen. Was verändert sich damit?
Wieviel Lebenszeit habe ich im vergangenen Jahr in endlosen Videokonferenzen verbracht. Klar, plötzlich ab Anfang März war keine Dienstreise mehr möglich, alle externen Termine zu Schulungen und Seminaren waren abgesagt. An der Uni fanden die Seminare nur noch digitale statt, die meisten Studenten hatten allerdings Ihr Kameras abgeschaltet, so dass man als Dozent auf einen Bildschirm voller grauer „Kacheln“ starrte und ins Leere redete. All das führte zu einem starken Gefühl von Distanz. Man verliert sich aus dem Blick, wenn das leibhafte Miteinandersein für viele Menschen gleichzeitig und plötzlich wegbricht. In den Gemeinden haben wir das ja stark gespürt und viele Amtsbrüder und -schwestern hörte ich fragen: „Was bleibt denn, wenn wir uns nicht mehr treffen dürfen?“ Online-Gottesdienste und das graue Rauschen aller möglichen Internetangebote konnten den Verlust kaum ausgleichen. Es gab aber auch die andere Seite: Man konnte mehr Zeit mit der eigenen Familie verbringen. Für einige, wie für mich, ein wunderbares Geschenk, für andere aber, vielleicht in engen Drei-Zimmer-Wohnungen mit Kindern, ein Alptraum. Meine Frau und ich konnten etwa in den Homeoffice-Zeiten von März bis Mitte Mai an jedem Nachmittag einen Spaziergang machen. Vorher undenkbar. Von ideologisch interessierter Seite wurde gar beklagt, dass nunmehr das (vermeintliche) Auslaufmodell (Kern-)Familie einen neuen Schub bekomme.
In der Summe aber überwiegt doch, dass Beziehungen unter Druck geraten, in die Distanz abgleiten, dass sie, mit einem Wort, „abstrakter“ werden.
Dem ist nun das Karfreitagsgeschehen und seine Einbettung in das Ganze der österlichen Drei-Tage schlicht entgegengesetzt. Man kann die Kreuzigung und den Gekreuzigten zu einer abstrakten Wahrheit umformulieren, man kann sie „prinzipialisieren“, zu einem blassen allgemeinen Gedanken von Vergebung machen – der dann an Ostern das Konzept eines „Neuanfangs“ entspräche. Man kann so auch die Fußwaschung von Gründonnerstag zu einem Gedanken des Dienens verdünnen, man kann das Abendmahl zum Modell einer inklusiven Gemeinschaft der Verschiedenen erklären. Aber mit diesen Abstraktionen hat man nichts gewonnen, was man nicht eh schon für wünschenswert hielte, und man hat von dem verloren, was die Bodenhaftung, die Erdung, ja die Verleiblichung des Evangeliums ausmacht – das eben nichts Ausgedachtes ist. Karfreitag, das ist eben Blut, Schmerzen, Flüche, Angst, Essig – alles Widerständige unserer leibhaften Wirklichkeit, an der Gott in Jesus Christus teilhat. Die jeder Abstraktion widerstehende Konkretheit des Evangeliums. Klar ist auch: Die Kraft dieser einmaligen Geschichte von Leiden und Sterben Jesu liegt darin, dass hier der eingeborene Sohn des Vaters leidet, das „Wort, das Fleisch ward“. Die Nägel der Kreuzigung warden durch die Hand dessen getrieben, der Mensch ist, wie ich und du – und doch unendlich (qualitativ) mehr: der ewige Gottessohn, der alles Menschsein auf sich genommen hat, um uns dem Tod verfallene Menschen in seine Ewigkeit zu führen. Was Luther den „fröhlichen Wechsel“ nannte, geschieht hier: Gott trägt den Tod, der Mensch erhält Anteil am ewigen göttlichen Frieden. Das eine nicht ohne das andere – und umgekehrt. Das Evangelium von Karfreitag und Ostern ist so zutiefst verwoben mit der Weihnachtsbotschaft: „Gott wird ein Kind, träget und hebet die Sünd; alles anbetet und schweiget.“ (Gerhard Tersteegen, EG 41,3). Diese geradezu ärgerliche Leibhaftigkeit widersteht allen Zügen der Abstraktion, sie sucht uns als volle, ganze Menschen, mit unserem Lachen und Weinen, unserer Freude und unseren Schmerzen. Wenn wir ein Lied, wie Paul Gerhardts „O Haupt voll Blut und Wunden“ singen, spüren wir ja, wie anstößig diese Worte für unser Lebensgefühl sind, wir sie uns auf den eigenen Leib rücken. So bedrängend wird das Leiden Jesu geschildert, ein spätmittelalterlicher Schmerzensmann gezeichnet, ein Passionsgemälde in Worten.
Ja, und, um nun zurückzukommen auf unsere Ausgangsüberlegung zum zweiten Corona-verdünnten Karfreitag: diese ganze Leibhaftigkeit, dieser Bezug auf den ganzen Menschen bleibt im leiblosen Medium des Internet auf der Strecke. Nun können wir uns das im Moment nicht aussuchen, und zumindest die politisch zunächst angeordneten gottesdienstlosen Ruhetage scheinen uns erspart zu bleiben, aber das Evangelium bleibt ja und wird verkündigt, und Gottes Geist wirkt auch durch Bildschirme hindurch, tröstet, stärkt, ermutigt, überführt und korrigiert. Freuen wir uns über das, was uns die Technik zumindest möglich macht. Und glauben wir, dass auch dieses gesichtslose geschehen der Pandemie in Gottes Weisheit und Liebe seinen Platz hat. Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen (Römer 8,28), auch die Pandemie! Aber, und das ist die Kehrseite: Den Stachel spüren, und nicht einfach in die digitale Neuaufstellung der Kirche einstimmen, das bleibt wichtig. Der leidende und sterbende Christus erinnert und daran, dass wir „Fleisch“ sind, der Erlösung bedürftig an Leib, Seele und Geist.
Ein virtuelles Kreuz? Gedanken zum Karfreitag 2021 von Dr. Roger Mielke, Koblenz